Von Markus Steinbeis, geschäftsführender Gesellschafter der steinbeis & häcker vermögensverwaltung gmbh
Es schwelt etwas unter der Oberfläche im Vereinigten Königreich. Proteste und Demonstrationen der EU-Anhänger gehören mittlerweile zum Alltag auf der Insel seit der knappen Brexit-Entscheidung vom 23. Juni 2016. Die Kundgebungen erschienen lange Zeit sinnlos und ohne Aussicht auf Erfolg. Das hat sich mittlerweile geändert – der Wind in den Parteien und im Parlament beginnt sich langsam zu drehen. Den Briten wird zusehends bewusst, dass sie die Komplexität sowie die Kosten der Austrittsverhandlungen unterschätzt und ihre Verhandlungsposition überschätzt haben. Die Wahrscheinlichkeit eines Exits vom Brexit steigt Monat für Monat. An den Kapitalmärkten ergeben sich Chancen.
Ökonomische Konsequenzen der Entscheidung werden sichtbar, wenn auch langsam
Die Bevölkerung spürt die ersten Auswirkungen der Brexit-Entscheidung am eigenen Geldbeutel. Das britische Pfund wertet deutlich ab und lässt damit die Inflationsraten steigen. Importe und Urlaubsreisen werden teurer, ohne dass dies durch steigende Löhne ausgeglichen wird. Der reale Kaufkraftverlust könnte die Stimmung in der Bevölkerung kippen. Bei diesen kleinen Brexit-Symptomen dürfte es sich aber lediglich um ein laues Lüftchen handeln, denn der ökonomische Orkan steht noch bevor. Es ist zu erwarten, dass rückläufige Direktinvestitionen aus dem Ausland und eine Investitionszurückhaltung britischer Unternehmen die Konjunktur schwer belasten werden. Etwa 50 Prozent aller vom Vereinigten Königreich exportierten Güter und Dienstleistungen gehen direkt in EU-Länder oder in Länder, die die Gesetze und Handelsvereinbarungen der EU ratifiziert haben. Sollte dies Großbritannien in einem harten Brexit über Bord werfen, drohen ökonomische Verwerfungen von historischem Ausmaß. Die oft angedeutete Senkung der Unternehmenssteuern ist in keiner Weise in der Lage, dies zu kompensieren.
Schlechte Verhandlungsposition
Die Komplexität des EU-Ausstiegs wird bei den Verhandlungen offensichtlich. Die Briten müssen alle Handelsverträge mit den 27 EU-Mitgliedsstaaten neu verhandeln. Doch damit nicht genug. Viele weltweite Handelsverträge basieren auf der EU-Mitgliedschaft Großbritanniens und müssen ebenso neu aufgesetzt werden. Schon macht im politischen London die Runde, dass es bis zu zehn Jahre dauern könnte all die internationalen Vereinbarungen sowie Handels- und Zollverträge neu zu verhandeln. Von den Kosten ganz zu schweigen. Zunehmend wird den Briten ihre schlechte Verhandlungsposition klar. Die EU kann auf Ihrem harten Standpunkt verharren, die Briten müssen deutliche Zugeständnisse machen. Das von den UK-Hardlinern immer wieder angedrohte Scheitern der Verhandlungen wäre für Kontinentaleuropa verkraftbar, für das Vereinigte Königreich dagegen eine wirtschaftliche Katastrophe.
Mit Europa lassen sich wieder Wahlen gewinnen
Die pro-europäischen Wahlergebnisse in Frankreich und den Niederlanden haben sich auch im politischen London herumgesprochen. Die Zustimmung für einen harten Brexit oder gar ein „No Deal“, also ein Abrechen der Verhandlungen, nimmt kontinuierlich ab. Da passt es ins Bild, dass die Labour-Partei bereits offen über ein neues Referendum diskutiert. Ex-Premierminister Tony Blair ist nur einer von vielen prominenten Unterstützern. Es wächst auf der Insel die Furcht vor einem wirtschaftlichen Niedergang. Während Euroland prosperiert, ziehen im Vereinten Königreich dunkle Wolken auf.
Wie wir alle wissen, verändern ökonomische Realitäten die politischen Mehrheiten. Eine aufziehende Rezession mit steigender Arbeitslosigkeit wird die Bevölkerung zu Recht dem anstehenden Brexit zuschreiben. Aufgrund des kläglichen Zustands der derzeitigen Regierung und der Gespaltenheit des Landes sind im Krisenfall Neuwahlen nicht ausgeschlossen. Die Labour-Partei beginnt sich schon heute zu positionieren.
Ökonomische Vernunft wird siegen
Viele Umfragen deuten an, dass sich die Stimmung in der Bevölkerung Großbritanniens noch nicht komplett gedreht hat. Im Krisenfall wird sich das ändern. Aus unserer Sicht wird der ökonomische Druck in den kommenden Monaten auf die Londoner Regierung stetig steigen, was den harten Brexit schon heute sehr unwahrscheinlich erscheinen lässt. Das Vereinigte Königreich wird sich auf die EU zubewegen müssen. Wie weit, wird sich zeigen. Möglich ist alles. Kein Brexit oder ein sehr weicher bzw. symbolischer Ausstieg, der in Wirklichkeit keiner ist, aber der britischen politischen Klasse die Gesichtswahrung garantiert. Es bleibt zu hoffen, dass auf diesem Weg nicht massenhaft und unnötig Arbeitsplätze verloren gehen.
Opportunitäten könnten an den Kapitalmärkten entstehen
Seit der Brexit-Entscheidung kam nicht nur das britische Pfund unter Druck, sondern auch die Aktienkurse vieler Unternehmen. Da an der Börse nicht die Vergangenheit oder Gegenwart, sondern stets die Zukunft gehandelt wird, ist die politische Entwicklung auf der Insel genau zu beobachten. Steigen die Wahrscheinlichkeiten für den Verbleib des Vereinigten Königreichs oder für einen weichen Brexit wird das sehr schnell in den Kursen Berücksichtigung finden. Insbesondere der Londoner Immobilienmarkt erscheint vor diesem Hintergrund interessant. Die Kurse von Unternehmen, die erstklassige Londoner Gewerbeimmobilien im Besitz haben, sind in Euro gerechnet seit dem Brexit-Votum um etwa 50 Prozent gefallen. Bei Bewegungen dieser Größenordnung werden wir hellhörig. Auf der britischen Insel entstehen gerade Investmentchancen.