Das wichtigste Thema an den Kapitalmärkten ist und bleibt die Inflation. Solange bei Investoren eine hohe Unsicherheit über die weitere Konsumentenpreisentwicklung vorherrscht, bleiben auch Prognosen über die künftige geldpolitische Richtung sowie die Konjunkturentwicklung außerordentlich vage.
Die dramatisch hohen Inflationsraten haben die wichtigen Notenbanken zweifellos überrascht. Zu lange haben sie das Problem ignoriert und als „vorübergehende Erscheinung“ verharmlost. Nun müssen sie reagieren, zumindest ein wenig. Wir befinden uns daher in der Frühphase eines Zinserhöhungszyklus. Historisch betrachtet ist dies eine schwierige und holprige Phase an den Kapitalmärkten, da sich Anleger fragen, ob die restriktivere Geldpolitik die Konjunktur in eine Rezession stürzen könnte. Dies ist auch diesmal das Muster, das die Finanzmärkte seit Monaten im Bann hält.
Wann wird die Spitze der Inflationsentwicklung erreicht?
Wir haben in unseren Marktkommentaren immer wieder darauf hingewiesen, dass sich in einem inflationären Umfeld die Inflationsraten nicht linear, sondern wellenförmig bewegen. Daraus ergibt sich eine wichtige Fragestellung: Befinden wir uns in der Nähe des ersten Scheitelpunktes, ab dem die Inflationsraten wieder zurückbilden werden?
Werfen wir zunächst einen Blick auf die aktuelle Situation. Um es vorwegzunehmen: Die Hoffnung, die Teuerung habe im März, nach einem leichten Rückgang im April, ihren Höhepunkt erreicht und würde sich nun allmählich abflachen, wurde bislang nicht erfüllt. Im Mai lag die Preissteigerung in den USA bei 8,6 Prozent und damit deutlich über den Erwartungen der Marktteilnehmer. Damit haben die Konsumentenpreise in den USA ein Vierzigjahreshoch erreicht. Die um Energie und Nahrungsmittel bereinigte Kernrate erhöhte sich im Jahresvergleich um 6 Prozent.
Die Komfortzone der US-Notenbank (FED) wurde schon seit vielen Monaten verlassen. Seit März hat die FED die Zinsen von 0,25 Prozent auf 1,00 Prozent angehoben. Am Kapitalmarkt wird derzeit erwartet, dass sich diese Entwicklung bis etwa 4,00 Prozent Mitte kommenden Jahres fortsetzen wird. Aber wie oben beschrieben, sind diese Prognosen mit höchster Vorsicht zu genießen. Wir können uns kurzfristige Zinsen in dieser Höhe vor dem Hintergrund der Verschuldungssituation nur schwer vorstellen.
Dieser Inflationszyklus ist in seiner Entstehungs- und Funktionsweise speziell. Jahrelange unverantwortlich monetäre Expansion war das trockene Reisig, das nur einen Funken bedurfte, um einen Flächenbrand auszulösen. Dieser Funken waren nun die Angebotsengpässe. Ein zu knappes Angebot sorgt seit Monaten für Preisdruck. Diese Engpässe reichen von Arbeitskräften bis zu Halbleitern. Notenbanken können in diesem Umfeld nur bedingt gegensteuern.
Obwohl diese Entwicklung sich schon viele Monate vor den Ukraine-Krieg entfaltete, gießt dieser Konflikt weiter Öl ins Feuer. Der Krieg in der Ukraine ist also keineswegs verantwortlich für die hohen Inflationsraten, dient aber als Verstärker und billige Entschuldigung für tiefgreifende Politikfehler. Wenn Notenbanken Mengen an Geld drucken, Waren und Dienstleistungen aber reichlich vorhanden sind, muss es nicht zwingend zu einer großen Teuerungswelle kommen. Wenn jedoch die Versorgung mit diesen Gütern eingeschränkt ist, dann steigen die Preise.
Zusätzliche Inflationsschübe erscheinen aus heutiger Sicht eher wahrscheinlich als ein schnelles Abflauen. Zudem besteht das Risiko, dass Chinas Zero-Covid-Strategie die globalen Lieferketten immer wieder destabilisieren könnte.
Auch die Preise in der Eurozone steigen schneller denn je. Die Europäische Zentralbank (EZB) wird zunehmend zum Handeln gezwungen. Die Inflationsrate der Eurozone ist im Mai auf den Rekordwert von 8,1 Prozent in die Höhe geschnellt. Die Preisüberwälzung von Erzeugern und Handel auf die Konsumenten findet schnell und in stärkerem Umfang statt. Die EZB hat diesen Preisdruck zu lange ignoriert und wird dadurch zur Getriebenen der überschießenden Inflation. Präsidentin Lagarde stimmte Anleger, Sparer und Investoren daher auch jüngst auf die nahe Zinswende ein.
Erstmals seit elf Jahren wird die EZB im Juli ihre Zinsen anheben. Auf kurze Sicht gibt es unseres Erachtens wenig, das die Entschlossenheit der EZB erschüttern könnte, ihr Experiment mit Negativzinsen zu beenden. Das Anleihekaufprogramm wird ebenfalls per 1. Juli gestoppt, aber anders als die FED plant die EZB noch keine Reduzierung ihrer Bilanz. Auslaufende Staatsanleihen werden weiterhin reinvestiert. Dieses Zögern und Zaudern hat natürlich Gründe. Es dürfte nicht mehr allzu lange dauern, bis die Zentrifugalkräfte innerhalb der Währungsunion wieder zu einem Problem werden. Noch bewegen sich die Zinsen in Italien (und damit die Finanzierungskosten des Staates) weit unter dem während der Eurokrise von 2011/12 erreichten Level, aber die Dynamik des jüngsten Anstiegs weckt Besorgnis. Seit Ende 2021 sind die Zehnjahreszinsen Italiens von unter einem Prozent auf über 3,6 Prozent angestiegen.
Es bleibt noch die Frage zu beantworten, wann die Inflation ihren Zenit in dieser ersten Welle überschreitet. Aus unserer Sicht sollte dies im laufenden Quartal aufgrund von diversen Basiseffekten der Fall sein. Dies setzt aber das Ausbleiben weiterer Covid-Restriktionen und sowie keine weitere Eskalation des Ukraine-Konflikts voraus. Es ist aber davon auszugehen, dass sich der Preisdruck über Monate nur langsam abbauen wird.
Die Wachstumsaussichten trüben sich ein
Die Volkswirtschaften der USA und Europas zeigen weiterhin Anzeichen einer Konjunkturabschwächung. Die Beziehung zwischen einer wirtschaftlichen Verlangsamung und einer regelrechten Rezession besteht darin, dass eine Verlangsamung eine Verringerung der realen Wachstumsrate von einem positiven Niveau bezeichnet, während eine Rezession eine völlige Verringerung der Wirtschaftstätigkeit ist. Mit anderen Worten, eine Verlangsamung kann zu einer Rezession führen, ist aber nicht gleichbedeutend mit einer. Eine Eintrübung, die tief genug wird und in den negativen Bereich rutscht, wird zu einer Rezession.
Zunächst spricht vieles nur für eine Eintrübung. Bedingt durch die Inflationsentwicklung und den Zinserhöhungen hat der internationale Währungsfonds die Prognose für das globale Wachstum im laufenden Jahr von 4,4 Prozent auf 3,6 Prozent gesenkt. Unsere Interpretation der derzeit sehr volatilen Konjunkturdaten ist, dass sich in den Industrieländern die Wachstumsdynamik abschwächt, aber sich noch in keiner Region eine rezessive Tendenz abzeichnet. Frühindikatoren, wie die Einkaufsmanagerindizes schwächen sich ab, befinden sich aber noch, außer in China, im expansiven Bereich.
Auch die Daten bezüglich der Einzelhandelsumsätze und der Industrieproduktion weisen noch auf robustes Konjunkturumfeld hin. Die Rezessionsängste für die USA halten wir daher für übertrieben. Der Arbeitsmarkt sieht in allen Regionen ebenso noch sehr robust aus.
Bezüglich Covid, Inflation, Geldpolitik und Wachstum befindet sich China in einer diametral anderen Situation als der Rest der Welt. Während Covid in Europa und den USA, zumindest temporär, als Belastungsfaktor verschwunden ist, beeinträchtigen die Lockdowns in China die Binnenkonjunktur in erheblichem Ausmaß. Zudem schwelt die Immobilienkrise weiter. China fiel also als Wachstumsmotor in den vergangenen Monaten aus. Dies könnte sich nun ändern. Chinas Wirtschaft gibt Lebenszeichen von sich. So kletterte der Industrie-Einkaufsmanagerindex in die Nähe der Expansionsschwelle. Allerdings ist die Wiederbelebung weniger dynamisch als nach dem Eindämmen des Infektionsgeschehens Anfang 2020.
Darüber hinaus sprechen die rückläufigen Neuinfektionszahlen dafür, dass die konjunkturelle Talsohle mittlerweile durchschritten ist. Zudem wurden zuletzt umfangreiche staatliche Stützungsmaßnahmen angekündigt. Expansive geldpolitische Schritte werden ebenfalls umgesetzt.
Hohe Nervosität an den Börsen
Fast alle Anlageklassen verzeichnen derzeit große Schwankungen. Aktien- und Anleihekurse bewegen sich seit Jahresanfang deutlich im Minus. Angst und Nervosität bei vielen Anlegern sind buchstäblich mit den Händen zu greifen. Wir versuchen in diesem Umfeld einen kühlen Kopf zu bewahren. Wie oben beschrieben, erwarten wir eine konjunkturelle Eintrübung, aber keine unmittelbar bevorstehende Rezession. Zentralbanken werden weiter restriktiv bleiben, die Realzinsen verharren dennoch im hohen negativen Bereich. Die Unternehmensgewinne sollten sich in diesem Umfeld weiterhin positiv entwickeln können.
Da die Notenbanken die Geldpolitik in einer sich bereits abschwächenden wirtschaftlichen Situation in den USA und Europa weiter straffen, zahlt es sich dennoch aus, insgesamt vorsichtig zu sein. Das bedeutet in einem hochinflationären Regime nicht zu 100 Prozent in Bargeld zu sein oder kein Risiko einzugehen, sondern vorsichtig mit den Renditeerwartungen und der Positionierung in diesem Jahr zu bleiben. Wir konzentrieren uns auf sowohl in der Aktien- als auch in der Anleiheselektion auf Unternehmen, deren Geschäftsmodelle auch in schwierigen Zeiten funktionieren.
Auch wenn wir uns wiederholen. Währungsanleihen, inflationsgeschützte Anleihen, Substanzaktien, Edelmetalle und Rohstoffe sind einige unserer Favoriten in diesem Umfeld. Wir sehen noch keinen Anlass, davon abzurücken. Eine strategische Allokation in diese inflationshemmenden Anlageklassen trägt dazu bei, die Inflationsanfälligkeit der Portfolios zu verringern und in diesem herausfordernden Umfeld eine adäquate Risikostreuung zu erreichen.
Es gibt aber auch Lichtblicke. Die US-Wirtschaftsaktivität verlangsamt sich, während die Erwartung der Marktteilnehmer bezüglich des Ausmaßes künftiger Zinserhöhungen möglicherweise den Höhepunkt erreicht haben. Das bietet Raum für positive Überraschungen. Dies gilt vor allem auch, wenn sich die Lage in China entspannt und die Energiepreise nicht weiter anziehen. Dies dürfte den Aktienmärkten helfen, das Jahr auf einem höheren Niveau zu beenden.