Kapitalmärkte entkoppeln sich von der Realität

von | 05. Juni 2020

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Die internationalen Kapitalmärkte fahren Achterbahn. Tempo und Ausmaß der Bewegungen sind in der Finanzgeschichte einmalig. Nach dem starken Einbruch im ersten Quartal erfolgt eine deutliche Erholung vieler Risikoanlagen seit April. In meiner etwa 25jährigen Berufslaufbahn habe ich noch nie eine derartige Abkoppelung der Kapitalmärkte von der Realwirtschaft beobachtet. Im Aktienbereich stehen teils historisch hohe Bewertungen (vor allem bei vielen US-Technologieaktien) einer äußerst fragilen makroökonomischen und gesellschaftlichen Situation gegenüber. Insbesondere in den USA scheinen viele Kurse gegenüber Konjunktureinbruch, Massenarbeitslosigkeit, Unruhen und Handelskonflikten immunisiert worden zu sein. Verbessert sich die Situation nun weiter oder sehen wir gerade die größte Bärenmarktrally der Geschichte und stehen vor einer neuerlichen Abwärtsbewegung im weiteren Jahresverlauf verbunden mit dramatischen Vermögensverlusten? Um es vorweg zu nehmen: Die Antwort ist nicht einfach in einer von Politik und Zentralbanken verzerrten Wirtschaft.

Erst Liquidität, dann Zahlungsfähigkeit

Während im ersten Quartal aufgrund des Einbruchs an den Kapitalmärkten ein Kampf um Liquidität tobte, sollte in den kommenden Monaten ein anderes Problem in den Vordergrund rücken: Die Zahlungsfähigkeit von Unternehmen und Privatpersonen.

Mit dem Corona-bedingten Stillstand der Volkswirtschaften sind die Umsätze vieler Unternehmen stark eingebrochen. Eine große Zahl von ihnen haben sich schnell noch von den Banken neue Kredite besorgt, um Liquiditätsreserven in der Bilanz sicherzustellen. Unzählige Jobs gingen verloren. In den USA wurden sämtliche, seit der Finanzkrise 2009 aufgebaute Arbeitsverhältnisse in kurzer Zeit wieder vernichtet. Die Jagd nach Liquidität zeigte sich auch an den Kapitalmärkten. In nahezu allen Anlageklassen gab es deutlich mehr Verkäufer als Käufer mit entsprechend negativen Konsequenzen für die jeweiligen Kurse.

Kurze Zeit später folgte die Antwort. Fiskal- und Geldpolitik reagierten weltweit mit gigantischen Gegenmaßnahmen. Die Märkte wurden mit Liquidität geflutet. Die USA verabschiedete ein Fiskalpaket über 2,7 Billionen US-Dollar, in Deutschland waren es jüngst 130 Milliarden Euro. In vielen anderen Ländern sind ähnliche Dimensionen zu beobachten. Die Zentralbanken finanzieren diese Programme mit frisch gedrucktem Geld, mit dem sie Rekordvolumina an Staats- und Unternehmensanleihen aufkaufen. Eine Staatsfinanzierung mit frisch gedrucktem Geld. Parallelen zur Weimarer Republik sind nicht zu leugnen. Innerhalb kurzer Zeit hat dadurch die US-Notenbank (FED) ihre Bilanzsumme um 3 Billionen US-Dollar aufgebläht. Für die Eurozone hat die Europäische Zentralbank (EZB) Anfang Juni ihr Anleihe-Kaufprogramm auf 1,35 Billionen Euro aufgestockt. Wir gehen davon aus, dass dies bei Weitem noch nicht das Ende der Fahnenstange bedeutet.

Nachdem dank der Notenbanken die Liquidität im Wirtschaftskreislauf gesichert wurde, beginnt nun der zweite Akt dieser Krise: Die Zahlungsfähigkeit der Unternehmen. Dieser Akt verläuft wesentlich langsamer und ist weitaus schwieriger zu heilen. Viele Unternehmen, auch wenn sie die kurzfristige Liquiditätsversorgung gesichert haben, werden durch die Schuldenlast und die eventuell durch Corona ausgelösten rückläufigen Umsätze erdrückt. Dann bleibt nur die Liquidation oder bestenfalls eine Restrukturierung. Erste prominente Opfer waren in den vergangenen Wochen schon zu beklagen. In den USA brach mit J.C. Penney eine der größten Ladenketten unter seiner Schuldenlast zusammen. Mit der Insolvenz des Autovermieters Hertz hat die Corona-Pandemie aber den bislang spektakulärsten Pleitefall ausgelöst. Die kommenden Monate und Jahre werden für Firmen mit schwacher Bilanz wohl sehr herausfordernd. Je länger die Coronakrise dauert, desto schneller bewegt sich die Pleitewelle weltweit voran.

Kapitalmarkt und Realwirtschaft: Zwei Welten?

Ökonomische Gesetzmäßigkeiten scheinen derzeit außer Kraft gesetzt. Selten gab es eine solche Diskrepanz zwischen negativen realwirtschaftlichen Daten und der scheinbar wieder guten Stimmung an den Finanzmärkten. Ungelöste politische Probleme werden ausgeblendet: Der Handelskrieg zwischen den USA und China droht mit Wucht wieder aufzubrechen, was 2018 ein erheblicher Belastungsfaktor für Aktien war. Darüber hinaus kämpfen die USA mit innenpolitischen Problemen, so dass das fundamentale Umfeld insgesamt unter Druck bleibt. In der größten wirtschaftlichen Krise seit den 1930er Jahren mit dramatischen Verlusten an Arbeitsplätzen (vor allem in den USA) erholen sich dennoch die Börsen.

Unter vielen professionellen Anlegern weltweit herrscht daher weiterhin eine hohe Skepsis. Zahlreiche berühmte und erfolgreiche Investoren, darunter Warren Buffet, halten die jüngste Aufwärtsbewegung an den Aktienmärkten wohl für eine Illusion und erwarten, dass die Kurse früher oder später auf den Boden der Realität zurückkehren werden. Das wäre auch nicht untypisch. In Rezessionen und Bärenmärkten gab es historisch immer wieder starke Erholungsbewegungen, bevor die Indizes wieder neue Tiefstände markierten und sich erst langsam eine Bodenbildung entwickelte. In der Tat, der Vergleich mit Erholungen nach ähnlich kräftigen Kurseinbrüchen in der Vergangenheit stellt für die kommenden Monate wenig Aufwärtspotenzial für Aktien in Aussicht.

In den USA spricht man mittlerweile von der am meisten gehassten Aufwärtsbewegung der Geschichte. Kein Wunder: Ein Blick auf die Positionierung vieler Profiinvestoren zeigt, dass der Aufschwung an den meisten Portfolios spurlos vorbeigegangen ist. Auch wir waren in Anbetracht der Schwere der Krise lange Zeit vorsichtig positioniert. Aber Anleger scheinen sich um Gefahren derzeit wenig zu kümmern. Sie treiben die Bewertungen auf Niveaus, die man seit dem Höhepunkt der Technologieblase nicht mehr gesehen hat. Dabei zeigen sie eindeutige Präferenzen: Wachstums-, Technologie- und Pharmawerte. Investoren sind sogar so optimistisch, dass sie ihre Absicherungen zurückgefahren haben. Das macht den Markt bei schlechten Nachrichten anfälliger für erneute Rücksetzer.

Eine rasche Erholung der Konjunktur jedenfalls ist ambitioniert. Die Prognosen der Volkswirte kennen seit Wochen nur eine Richtung: die nach unten. Für 2020 erwarten die Experten mittlerweile deprimierende Veränderungsraten des Bruttoinlandsprodukts von über acht Prozent minus in Europa und gut vier Prozent minus in den USA. Selbst China dürfte in diesem Jahr Federn lassen und allenfalls noch ein marginales Wachstum verbuchen. Das passt auch zu den Einschätzungen von Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank. Letztere sieht die Wirtschaft eher in Richtung eines „worst case“-Szenarios driften.

Ungesunde hohe Konzentration am US-Aktienmarkt

Wir leben in einer Welt der Superlative, auch an den Aktienmärkten. Die jüngste Aufwärtsbewegung wurde maßgeblich von Technologieunternehmen getragen. Die Situation ist in Bezug auf Bewertung aufgrund der jüngsten Aufwärtsbewegung extrem angespannt. Die größten fünf Unternehmen (Microsoft, Apple, Amazon, Alphabet, Facebook) haben mittlerweile eine derart hohe Marktkapitalisierung erreicht, dass sie über 20 Prozent Indexgewicht im breiten amerikanischen Aktienindex S&P500 abbilden. Die restlichen 495 Unternehmen zusammen repräsentieren etwa 80% des Index. Dies übersteigt noch die Konzentration zu Zeiten der Dotcom-Blase im Jahr 2000. Man muss in die 1970er und 1980er Jahre zurückblicken, um eine ähnliche Situation zu beobachten. Damals waren AT&T und IBM die Lieblinge der Anleger. AT&T wurde in den kommenden Jahren zerschlagen und IBM hat technologisch und wirtschaftlich deutlich an Relevanz verloren. Es gab auch Zeiten in den 1990er und 2000er Jahren, in denen Exxon Mobile und General Electric den US-Aktienmarkt ähnlich dominierten. Beide spielen heute auch nur eine untergeordnete Rolle.

Natürlich kann es diesmal anders sein, aber die Geschichte hat immer gezeigt, dass sich die Unternehmen mit dem größten Indexgewicht in den folgenden 5 bis 10 Jahren schwach gegenüber dem Rest der Indexmitglieder entwickelt haben.

Ähnlich sieht die Situation auf Länderebene aus. Getrieben von den Technologiewerten entwickelte sich der US-Aktienmarkt wesentlich besser als die Märkte aller anderen Industrieländer.Vor dem Hintergrund dieser Exzesse dürften die Opportunitäten für die Anleger in den kommenden Jahren eher außerhalb der USA und nicht im Technologiebereich liegen.

 

Wir fahren auf Sicht

Die eingangs aufgeworfene Frage, ob wir uns am Beginn einer neuen Aufwärtsbewegung befinden oder ob die Kapitalmärkte dem depressiven Zustand der Realwirtschaft noch deutlich Tribut zollen werden, wurde noch nicht abschließend beantwortet. Sie ist auch seriös mit dem heutigen Kenntnisstand leider nicht zu beantworten. Wir gingen in unserem Szenario immer von einer länger anhaltenden deflationären Phase aus. Das gleichzeitige Eintreten eines Angebots- und Nachfrageschocks wirkt hochgradig deflationär. Dies zeigen auch die jüngst veröffentlichten Daten bei den Konsum- und Produzentenpreisen in den USA und Euroland. Die Preisbewegungen vieler Anlageklassen (Rohstoffe, Währungen, etc.) in den vergangenen Wochen zeigen uns aber derzeit, dass die Kapitalmärkte einer inflationären Trendwende eine immer größer werdende Wahrscheinlichkeit zubilligen. Damit würde das von uns erwartete Inflationsumfeld nicht erst 2021/2022, sondern noch in diesem Jahr beginnen. Vielleicht zeigen Fiskal- und Geldpolitik ihre Wirkung schon viel früher. In Europa haben sich die konjunkturellen Perspektiven mit dem von der EU-Kommission vorgeschlagenen Wiederaufbaufonds deutlich verbessert. Mit einem Volumen von 750 Mrd. EUR hat er deutlich mehr Gewicht als der kürzlich präsentierte Merkel-Macron-Plan über 500 Mrd. Euro. Zusammen mit dem Hilfspaket vom April würde er immerhin gut 9 Prozent des EU-Bruttoinlandsprodukts ausmachen. Die Mittel sollen auf die Jahre 2020 bis 2024 verteilt werden, sodass ein jährlicher Wachstumsimpuls von durchschnittlich 2% des Bruttoinlandsprodukts pro Jahr erzeugt und damit eine sichtbare konjunkturelle Wirkung entfaltet würde. Gleichzeitig vollzieht sich die Monetarisierung der Staatsfinanzen durch die Notenbanken. In den USA wächst die Geldmenge M1 bereits mit 35 Prozent gegenüber dem Vorjahr, die Geldmenge M2 mit 23 Prozent. Im Euroraum zeigen sich ebenfalls die Anfänge der Geldmengenvermehrung: Die Euro-Geldmenge M1 steigt um knapp 12 Prozent, M3 um gut 8 Prozent. Ein inflationärer Geldüberhang baut sich auf. Je größer die Lücke zwischen Geldmenge und Produktion ist, desto stärker ist der Aufwärtsdruck auf die Güterpreise.

Die Wahrscheinlichkeit eines früher als von uns erwarteten Inflationsumfelds gilt es zu berücksichtigen. Wir haben unsere Aktienquoten in den vergangenen Wochen erhöht und planen die Struktur unserer Portfolios dem Umfeld sukzessive anzupassen. Wir wollen dies Augenmaß vorantreiben und weiterhin auf Sicht fahren, da sich das Umfeld noch als äußerst instabil zeigt. Vielleicht ist es auch wieder nötig umzusteuern, wenn sich das Umfeld ändert.

Auch in einem inflationären Umfeld haben wir starke Sympathien für Edelmetalle als Portfoliobaustein (siehe Kolumne), aber wir interessieren uns auch sehr für Unternehmen, die jüngst stark abverkauft wurden, aber über eine gesunde Bilanz verfügen. Hochverschuldete Unternehmen dagegen, auch wenn deren tiefe Kurse auf den ersten Blick als attraktiv erscheinen mögen, finden in unseren Portfolios keine Berücksichtigung.

Diese Qualitätsunternehmen zu attraktiven Preisen finden wir zusehends in zyklischen Branchen. Wir sehen hier langfristig sehr gute Perspektiven auf Basis der aktuellen Bewertungen.

Weiter gehen wir davon aus, dass Politiker und Notenbanken weltweit nichts unversucht lassen werden, um einen deflationären Kollaps zu verhindern. Um zu vermeiden, dass hunderte Millionen Menschen sich den täglichen Lebensunterhalt nicht mehr leisten können und eine große Anzahl an Unternehmen aus dem Wirtschaftsleben verschwinden, werden sie unvermindert große Fiskalpakete mit frisch gedrucktem Geld lancieren. Begleitet von einem Abwertungswettlauf der Währungen soll damit ein Worst-Case-Szenario verhindert werden. Attraktiv bewertete Unternehmen, mit dem Potential die Krise zu überleben, stellen daher eine gute Opportunität dar.

Dies bedeutet aber nicht, dass die Aktienkurse künftig nicht mehr fallen werden. Im Gegenteil, nach den jüngsten Anstiegen werden die Aktienmärkte bei schlechten Nachrichten anfällig sein für Rückschläge. Unternehmen aber, deren Kurse jüngst gefallen sind und die mit starker Bilanz sowie einem soliden Geschäftsmodell den ökonomischen Sturm in 2020/2021 überstehen, sollten im nächsten inflationären Zyklus deutlich an Wert gewinnen. Wann immer dieser Zyklus auch einsetzt.

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